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Ziegelmauer mit zwei Schriftzeichen - heutzutage wohl ein beliebter Foto-Hintergrund. Zumindest im Nostalgie-Ort "Erinnerung an die Östliche Vorstadt".

Altes, neues Chengdu

Oder: Nostalgie-Orte in der Hauptstadt von Sichuan

Liebe Leserschaft,

im Sommer war ich in China! Und es war wie immer absolut großartig. Es waren zwei Wochen voller Wiedersehen, leckerem Essen, mit Stadt, mit Land, mit Berg, mit Tal, im Zug, im Bus. 

Die erste Station der Reise war Chengdu 成都, die Hauptstadt der Provinz Sichuan 四川, nach Yunnan eine meiner Lieblingsprovinzen. In Chengdu gibt es viel zu sehen, zu erleben und zu essen, doch heute soll es statt einer Gesamtschau um einen Teilaspekt gehen.

Denn bei einem Chengdu-Besuch fällt doch recht schnell auf: Hier gibt es viele, nennen wir sie: Nostalgie-Orte. Also Orte, die irgendwie die Vergangenheit rekonstruieren, zumindest in ästhetischer Hinsicht. Seien es hundert oder tausend Jahre, seien es Jahrzehnte oder eine eigentlich gar nicht so genau definierbare Zeit: Es hat immer etwas von einem Filmset. Für eine historische Seifenoper.

Aber ich will diesen Orten nicht Unrecht tun, sie sind trotz eines meist hohen Andrangs irgendwie ganz schön, zumal meist irgendeine kulinarische Infrastruktur vorhanden ist. Daher hier drei Nostalgie-Orte in Chengdu.

Wasserstraße am Tiexiang Tempel 铁像寺水街

Ausgang der Tiexiangsi Wasserstraße

Eine etwas sperrige deutsche Übersetzung für einen eigentlich sehr entspannten Ort im Bezirk Wuhou: Rings um den Tiexiang-Tempel aus der Ming-Dynastie entstand in den 2010ern eine Einkaufs- und Gastrozone. Ich schätze mal, architektonisch soll es an die Ming-Dynastie erinnern, aber vielleicht ist das Ziel auch einfach, dass es hübsch aussieht und nicht unbedingt irgendeine historische Wirklichkeit abbildet (ein Anspruch, der vielleicht von vornherein ohnehin nicht realistisch ist).

Spaziergang durch die Tiexangsi Wasserstraße

Auf jeden Fall ist die Gegend sehr entschleunigend und lädt zum Schlendern und Verweilen ein. Es gibt Teehäuser, Restaurants mit chinesischer und internationaler Küche und diverse Geschäfte (alles preislich schon etwas gehobener) und hier und da kleine Kanäle. Ich war hier mit einer sehr coolen Rentertruppe zu Mittag essen, es hat superlecker geschmeckt und war sowieso eine sehr lustige Gesellschaft.

Nostalgie macht hungrig

Breite und schmale Gassen 宽窄巷子

Besuch der Breiten und Schmalen Gassen (Symbolbild). Foto über eak_kkk auf Pixabay.

An einer etwas späteren Dynastie, nämlich der Qing-Dynastie, orientiert sich eine Gegend namens „Breite und schmale Gassen“. Im Gegensatz zur Tiexiang-Tempel Wasserstraße stammen die Wohnhäuser tatsächlich aus der chinesischen Kaiserzeit und wurden nicht jüngst erst errichtet.

Wenn ich mich recht entsinne (dazu gleich ein Wort), gibt es hier im Wesentlichen drei Gassen: eine breite, eine schmale und eine, die zu einem Brunnen führt. In diesen Gassen gibt es Cafés, Imbisse, Shops aller Art und vor allem jede Menge Menschen.

Denn das ist meine Haupterinnerung an diesen Nostalgie-Ort: Menschenmassen und das Gefühl, hier irgendwie durchgeschoben zu werden. 2014 (?) war ich da und fand es schon damals irgendwie etwas überfüllt – was auch erklärt, wieso ich keine Fotos von dem Ort habe. Aber das Internet weiß natürlich weiter:

Starbucks in den Breiten und Schmalen Gassen. Foto von Derek auf Flickr. Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0.

Wenn man so darüber nachdenkt, ist es eigentlich schon paradox, dass ein Ort wie die Tiexiangsi-Wasserstraße, der komplett künstlich ist, irgendwie angenehmer zu besuchen ist als ein Ort, der zumindest eine gewisse Geschichte hat und daher eigentlich authentischer sein sollte, so wie eben die Breiten und Schmalen Gassen. Naja.

Erinnerung an die Östliche Vorstadt 东郊记忆

Springen wir nun in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: An diese Zeit erinnert der Nostalgie-Ort „Erinnerung an die Östliche Vorstadt“ (noch so eine krumme Übersetzung – die englische Version „Eastern Suburbs Memory“ klingt da zumindest noch ein bisschen besser). Hier befand sich von den 1950ern bis 1980ern ein Industriegebiet, und dieser Nostalgie-Ort erinnert eben an diese Zeit und seine Fabriken.

Meinem (natürlich subjektiven) Eindruck nach gibt es hier neben den üblichen Cafés, Restaurants und Geschäften etwas mehr künstlerische Infrastruktur (falls das ein Ausdruck ist) als in den zwei anderen genannten Orten: Ateliers, Galerien, sowas halt, alles mit so einem bisschen industriellen Charme.

Erinnerung an die Östliche Vorstadt: Café in einem alten Zugabteil (diese Art Zug fährt noch, ist aber eher selten geworden)

Natürlich ist auch die „Erinnerung an die Östliche Vorstadt“ nun auch nicht gerade ein menschenleerer Ort. Aber man kann ihn sich trotzdem mal ansehen. Und einen Latte macchiato schlürfen.

Wie kann man all dies nun interpretieren?

Denn allein für ein paar Gedankenanstöße sind Orte wie die drei genannten und ihre unzähligen, über die ganze Volksrepublik verteilten Geschwister schon wertvoll: Warum mögen Menschen solche Nostalgie-Orte? Warum sind sie – gefühlt – in China häufiger anzutreffen als z.B. in Deutschland? Worin liegt ihr Charme, worin ihre Anziehungskraft?

Eine etwas naheliegende Antwort: Solche Orte sind instagrammable. Oder auf China umgemünzt: Sie eignen sich für Posts auf WeChat, RedNote und anderswo. Sie sehen irgendwie schick aus und je nach Zielgruppe kann man ganz nebenbei droppen: Ich kann es mir leisten, hier vielleicht nicht nur Fotos zu schießen, sondern auch zu shoppen oder zu essen.

Aber – ist da nicht noch etwas Anderes? In einem Land, in dem Städte sich rasend schnell wandeln und in dem (soweit ich weiß) „Gentrifizierung“ keine Linse ist, durch die man städtische Veränderungen betrachtet, geben solche Orte möglicherweise auch ein Gefühl von Kontinuität, von Beständigkeit. Ein Stück Urspünglichkeit bleibt erhalten, eine kleine Ecke einer Stadt sieht zumindest noch aus wie vor mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten und eben nicht wie der Rest der Stadt, der anderen Städten in China zumindest ähnelt. Ein Stück lokale Identität bleibt erhalten oder wird, genauer gesagt, rekonstruiert, und darauf darf man natürlich auch stolz sein.

Aber who knows. Für eine Chinareise sind solche Nostalgie-Orte sicherlich sehenswert, allein schon fürs people watching, für einen Eindruck von dem, was mal war, für einen Einblick in das, was Menschen aus China gerne für Sightseeing betreiben. Und für die Suche nach der Antwort auf die Frage, was der Appeal solcher Orte ist – wenn ihr Ideen dazu habt, meldet euch gerne.

Eure eigentlich nicht zu Nostalgie neigende Charlotte


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