Oder: Ein Plädoyer
Liebe Leserschaft,
es gibt Blogartikel, die sich eher auf das Berichten beschränken – was geschah wann wie wo? Andere geben Gespräche wieder oder zeigen ausschließlich Bilder, die ja ohnehin mehr als tausend Worte sagen. Und es gibt Textarten, die eben meinungsbezogen sind und mithin in eine bestimmte Richtung tendieren, und ein solcher Text ist der heutige.
Jetzt wo mein Studium fast fertig ist, denke ich natürlich ab und an über sein Ende, seinen Anfang und all die fabelhaften Semester dazwischen nach, und wie es mir überhaupt mit meinem Studiengang, der Sinologie, so ergangen ist. Die kurze Fassung: ziemlich gut! Die Langfassung, der die Gründe des gut-Ergehens darlegt, folgt nun.
Sinologie: Inhalte und Schwerpunkte
Bevor wir dazu kommen, was alles schön ist an einem Sinologiestudium, zuerst noch ein paar Fakten. Also, womit beschäftigt sich die Sinologie? In ihrem weitesten Sinne behandelt sie alles, was in irgendeiner Weise mit dem sogenannten „Greater China“ zu tun hat. Geographisch wären dies die VR China, Taiwan, Hongkong, Macao, alle communities der Überseechinesen, und spätestens hier verliert jeder Versuch einer regionalen Eingrenzung an Präzision. Und andererseits – was ist mit Tibet? Xinjiang? In aller Regel beschäftigt sich die Sinologie auch mit diesen Regionen.
Auch thematisch ist die Sinologie recht breit aufgestellt: Alles, was irgendwie mit China zu tun hat, lässt die Herzen von Sinologinnen und Sinologen höher schlagen. Dass man selber früher oder seine Steckenpferde findet, ändert nichts daran, dass beim Wort „China“ alle Ohren gespitzt werden. In aller Regel geht es in der Sinologie dann doch meist um Geschichte, Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik Chinas. Aber natürlich hindert das die Sinologie nicht daran, auch gewisse, nennen wir es mal: Besitzansprüche auf Themen wie Chinesische Medizin, Chinesische Musik oder Chinesisches Recht (!) zu stellen, zumal ja auch in Bezug auf China alles mit allem zusammenhängt.
Das weite Feld hat entsprechende Auswirkungen auf die Methodik: Die Sinologie ist stark abhängig von Methoden anderer Disziplinen. Politische Themen geht man mit Methoden der Politikwissenschaft an. Historische mit denen der Geschichte. Und so weiter, idealerweise zumindest.
Sinologie: Unis
Chinawissenschaftliche Studiengänge bieten knapp zwanzig Universitäten zwischen Hamburg und Freiburg an, in aller Regel im Bachelor-Master-System (von den Sinonerds gibt es dazu eine ganz gute Übersicht). Manche Studiengänge sind dabei weiter gefasst als andere. Z.B. war mein eigener Bachelor das Fach Sinologie in aller Breite, die dieses Fach bietet (an der Uni Leipzig, hach, das waren noch Zeiten), aber andere Unis setzen schon im Bachelor Schwerpunkte. Um nur mal zwei Beispiele zu nennen: An der FH Bremen wird der Studiengang „Angewandte Wirtschaftssprachen und Internationale Unternehmensführung“ mit Schwerpunkt China angeboten (ist das eigentlich noch Sinologie oder schon BWL?!); an der HU Berlin kann, wer einen Bachelor in Regionalstudien Asien/Afrika macht, als Beifach „Klassisches Chinesisch und traditionelle Schriftkultur Chinas“ wählen. Bei Letzterem fange ich natürlich fast an zu sabbern. Aber nur fast, denn für mich war ein breit aufgestellter Bachelor in der Sinologie genau das Richtige. Was ich sagen will: Die Sinologie ist ein weites Feld, das manche Studiengänge voll ausschöpfen, während andere einen Bereich aussuchen und hier in die Tiefe gehen.
Über derlei sollte man sich natürlich Gedanken machen, wenn man sich für ein Studium im Bereich Chinawissenschaften entschieden hat und es nun um die Uniwahl geht. Dabei helfen einem der Blick ins Vorlesungsverzeichnis, die eine oder andere Studienberatung, ein Besuch der Unibibliothek(en), und außerdem, so leidlich es auch meistens ist, eine kleine Lektüre der Studienordnung und des Modulverzeichnisses: Welcher Fokus wird bei den Seminaren gesetzt? Welche Wahlmöglichkeiten bestehen? Sind Auslandsaufenthalte vorgesehen? (…die man natürlich auch selber organisieren kann, aber es sagt doch ein bisschen was über eine Uni aus, wenn im eigentlichen Aufbau des Studiengangs kein Chinasemester enthalten ist) Welche Kooperationen bestehen mit welchen Unis im Ausland? Gibt es andere regionalwissenschaftliche, gerne asienspezifische, Studiengänge an der Uni?
Sinologie: ist toll
Also! Warum ist die Sinologie so super?
Vielseitigkeit
Die Sinologie bietet einem unglaublich viel Freiraum, eigenen Interessen nachzugehen. Du interessierst dich für Thema XY? Wunderbar, hänge ein „in China“ dahinter und schon ist eine Grundidee für eine Hausarbeit auf der Welt. Natürlich muss man das dann noch weiter eingrenzen, einen theoretischen Rahmen finden, all diese Späße, und irgendwie muss das Thema noch zu einem Seminar passen. Wird es keine Hausarbeit, lässt sich diese Idee aber ganz bestimmt anders verwenden, sei es ein Blogeintrag, ein Artikel in einer Unizeitschrift oder die Grundlage für ein ganz anderes Projekt in Freizeit, Praktikum oder Nebenjob.
Das ist nämlich auch ganz wichtig: Der Blick über den Tellerrand. Die Sinologie gibt einem einiges an Wissen und Werkzeugen an die Hand, doch wer sich nur in den Grenzen dessen bewegt, was die Uni einem vorsetzt, der verpasst vieles. Das Gute ist, dass es in den meisten Städten richtig viele Möglichkeiten gibt, sich außerhalb des Studiums weiter mit China zu befassen: chinabezogene Vorträge, Filmabende, Podiumsdiskussionen, Kurse jeder Art und dergleichen, außerdem Sprachtandems. Also auf ins Vergnügen!
Aber zurück zur Vielseitigkeit der Sinologie. Sie bietet Einblicke in eine Fülle anderer Fachbereiche, z.B. Geschichte oder Soziologie. Mit der Zeit lernt man viele verschiedene Herangehensweisen an dieses „China“ kennen (und schätzen), aber eben auch überhaupt unterschiedliche akademische Denkweisen. Das ist vielleicht auch die große Schwäche der Sinologie: Sie braucht andere Fachbereiche, derer Werkzeuge sie sich bedienen kann. Und in einem allgemeinen chinawissenschaftlichen Studiengang beschleicht einen nach ein paar Semestern das Gefühl, die meisten Dinge eher nur ein bisschen zu betrachten: ein bisschen Kultur. Ein bisschen Politik. Ein bisschen Wirtschaft. Gerade deswegen ist die Beschäftigung mit China außerhalb des Studiums so ungeheuer wichtig.
Sprache
Vielleicht trifft das am allermeisten auf einen der schönsten Bereiche der Sinologie zu: die Sprache. Wie bei allen anderen Aspekten der Sinologie variiert auch die Intensität der Sprachausbildung an einzelnen Hochschulen, aber wichtig ist sie überall. Ohne halbwegs solide Chinesischkenntnisse ist es schwer, sich die entsprechenden wissenschaftlichen Quellen zu erschließen und sich überhaupt halbwegs autonom durch dieses fabelhafte Land (ok, Länder) zu bewegen. (Wie es dann möglich ist, dass manche beim Abschluss ihres Studiums ein absolutes Kauderwelsch oder, noch schlimmer, einfach gar nichts entfernt chinesisch Klingendes von sich geben, ist mir ein Rätsel).
Dabei ist Chinesisch doch so wunderbar. Wie diejenigen von euch, die Chinesisch sprechen oder lernen, wissen, ist es einfach faszinierend, wie diese Sprache funktioniert: ihr Aufbau, ihre Grammatik, ihr Vokabular, ihre Syntax haben einfach etwas. Dazu kommen eure neuen best friends: Schriftzeichen, jedes letztlich ein mal eher konkretes, mal eher abstraktes Bild. Und Chinesisch hat Töne! Es mag vielleicht zunächst seltsam erscheinen, aber es funktioniert wunderbar. (Ein Satz, der einen durch die Sinologie begleitet.)
China
China! China China China. Egal, was ihr dazurechnet oder nicht: Es bleibt spannend. Ich selber habe mich in meinem (hoffentlich bald auch offiziell abgeschlossenen) Studium v.a. mit der Volksrepublik beschäftigt, und das war und bleibt echt interessant. Einerseits passiert in diesem Land unglaublich viel unglaublich schnell – das China meines ersten Semesters ist letztlich ein anderes als das meines * hust * äh, aktuellen Semesters. Sei das Social Credit System oder die Situation in Hongkong, Huawei in Deutschland oder das Südchinesische Meer: All dies sind Themen, mit denen eine sinologische Beschäftigung spannend und sinnvoll ist. Gleichzeitig ändert sich manches aber auch nie, und das ist auch irgendwie faszinierend. China scheint auf den ersten Blick voller Widersprüche zu sein, aber wenn man sich auch nur ein bisschen damit auseinandersetzt, merkt man, wie doch vieles scheinbar Paradoxes in sich stimmig und auch logisch zu erklären ist, und man stellt auch gelegentlich fest, dass man viel zu oft die Dinge durch eine europäische Brille betrachtet, ohne sich dessen so ganz bewusst zu sein.
Denn das ist dabei wohl der springende Punkt: Natürlich ist jeder Mensch in seiner Denkweise durch die Umstände geprägt, unter denen er aufwuchs und in denen er sich auch heute bewegt. Das ist ganz normal und nichts Schlimmes oder Peinliches. Aber die Sinologie lehrt einen dennoch eine gewisse Bescheidenheit dahingehend, die eigenen Herangehensweisen und Perspektiven eben nicht als absolut zu betrachten.
Andererseits ist auch die chinesische Geschichte wahnsinnig interessant. Sie ist erstens über die Jahrtausende hinweg gut dokumentiert, was eine Beschäftigung mit ihr natürlich erleichtert. Sie ist aber auch ungeheuer wechselhaft, und wechselhafte Geschichten sind, ob man es nun gut findet oder nicht, die fesselnden.
Ach, es gibt noch so viel weiteres Spannendes an China. Aber ich merke, wie ich abzuschweifen drohe.
Ein Wort noch: Auslandsaufenthalte! Vergesst Erasmus in Dänemark. Richtig tolle Auslandsaufenthalte bietet euch die Sinologie.
Liebe Leserschaft, sagt, wie haltet ihr es mit der Sinologie? Seid ihr Sinologen? Und was liebt ihr an eurem Fachbereich, eurem Beruf, dem Gebiet eurer Expertise?
Eure wohl noch lange im Herzen Studentin bleibende Charlotte