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Tā ist nicht gleich Tā

Oder: Er, sie, es, noch ein Es, noch ein Es, X und ein gesiezter Er

Liebe Leserschaft,

heute widmen wir uns wieder chinesischen Schriftzeichen, genauer gesagt den Zeichen für die verschiedenen Varianten des Personalpronomens der dritten Person Plural, ein Pronomen, was die deutsche Sprache mit „er“, „sie“ oder „es“ wiedergibt.

Auf Chinesisch gestaltet sich das Ganze zumindest in der gesprochenen Sprache etwas einfacher: die dritte Person Singular heißt einfach immer „tā“. Das kann „er“ bedeuten, ebenso aber auch „sie“ oder „es“. Also: „Wo ist [tā]?“ kann heißen: „Wo ist er?“, „Wo ist sie?“ oder aber auch „Wo ist es?“. Oftmals wird aus dem Kontext ersichtlich, welches deutsche Wort das infrage stehende Tā nun wiedergäbe. Es passiert zumindest mir als Nicht-Muttersprachlerin dennoch ab und an, dass ich ein anderes Geschlecht vermutet hätte, als ich dann später treffe (was einen durchaus interessanten Prozess der Selbstreflexion anstoßen kann, aber das ist wohl ein Thema für einen anderen Eintrag).

Alles klar? Oder schon längst bekannt? Keine Sorge, ich habe noch Gehirnfutter für euch. Denn die chinesische Schrift hält nicht etwa eins, zwei oder auch nur drei Zeichen für das Personalpronomen der dritten Person Singular parat, sondern mindestens fünf, die sich zwar alle mit einer Ausnahme als tā aussprechen, aber unterschiedlich geschrieben werden. Und um diese Zeichen soll es heute gehen – fangen wir an.

Erstes Tā: 他 er

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Das älteste Tā bedeutet im heutigen Chinesisch „er“, aber das war nicht immer so. Ganz ursprünglich bedeutete es einfach nur „andere/r/s“ und wurde dann aus dieser Grundbedeutung heraus mit den Jahrhunderten (Jahrtausenden gar) zu „er/sie/es“. Es besteht aus dem Radikal für Mensch 人, das in zusammengesetzten Zeichen als 亻in der linken Seite des Zeichens wiedergegeben wird und der in diesem Falle keine nennenswerte Bedeutung aufweisende Komponente 也:

Im modernen Chinesisch hat sich diese Grundbedeutung „andere/r/s“ in Wörtern wie qítā 其他 (andere/r/s) oder tārén 他人 (andere Persone(n)) erhalten. Für sich stehend bedeutet 他 heute allerdings „er“, letztlich weil sich so viele Zeichen von im abgespalten haben.

Zweites Tā: 她 sie

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Das Zeichen 她 bedeutet „sie“ und ist deutlich jünger als das Tā für „er“ (他). Es besteht links aus dem Zeichen (hier zugleich Radikal) für Frau 女 und enthält rechts die Komponente 也, die wir ja schon aus dem Zeichen für „er“ kennen:

Die Ursprünge des Zeichens gehen wohl auf die Song-Dynastie (960-1279) zurück, aber erst viel später erhielt das Zeichen die heutige Bedeutung „sie“: Anfang des 20. Jahrhunderts ordnete der Dichter, Sprachwissenschaftler und Vertreter der 4.-Mai-Bewegung Liú Bànnóng 刘半农 dem Zeichen 她 diese neue Bedeutung zu.

Drittes Tā: 它 Es

Besonders schöner Gegenstand: Ananas-Slush in Hualian, 2023

Das dritte Tā bedeutet „es“, sowohl für Gegenstände als auch für Tiere (aber zu Letzterem gleich mehr). Es fällt etwas aus der Reihe all unserer Tās, aber auf spannende Art und Weise. Ganz ursprünglich bedeutete es „Schlange“, aber in seiner Entwicklung spaltete sich mit der Zeit ein separates Zeichen für Schlange ab, das das bekannte Tā 它 mit dem Radikal für „Insekt, Reptil, Amphibium“ (虫) kombinierte: 蛇。

Dass heute das Schriftzeichen 它 „es“ bedeutet, geht wieder auf Liú Bànnóng zurück, der diese Bedeutung einführte – eine Bedeutung, die sich bis heute hält.

Viertes Tā: 牠

Ein Vögelchen in Chengdu

À propos Tiere: Um Tiere schriftlich zu bezeichnen, kann das gerade beschriebene Tā 它 zum Einsatz kommen. Oder aber – und ab hier bewegen wir uns im Bereich der eher selten verwendeten Tās – wir greifen auf das schöne Zeichen 牠 zurück, das sich ebenfalls „tā“ ausspricht (surprise). Es besteht links aus der Kompenente 牛 für Kuh – was, willkommen in der Welt der chinesischen Zeichen, natürlich nicht bedeuten muss, dass jedes Zeichen mit diesem Bestandteil tatsächlich eine Bedeutung aufweist, die tatsächlich etwas mit Kühen zu tun hat – sowie rechts der bereits aus den Tās für „er“ 他 und „sie“ 她 bekannten Komponente 也。

Dieses Tā wird vor allem in Taiwan, Hongkong, Macao und einigen Überseecommunities verwendet – eben dort, wo Langzeichen (traditionelle Zeichen) im Einsatz sind. In der Volksrepublik, wo unter Mao umfassende Schriftreformen stattfanden, wird hingegen das oben beschriebene Zeichen 它 auch für Tiere genutzt.

Wer oder was ist eigentlich Pennywise? Foto über Pixabay

Fun Fact: Aus diesem Grund heißt der Roman „It“ von Stephen King in der Kurzzeichen-Version „它“ (für Tiere und Gegenstände) und in der Langzeichen-Version „牠“ (nur für Tiere). Die Frage, ob Pennywise nun ein Gegenstand oder ein Tier ist, umgeht die Kurzzeichen-Version also recht elegant, die Langzeichen-Variante entscheidet sich für ein Tier. Nun gut.

Fünftes Tā: 祂

Kathedrale Herz Jesu in Dali. Rechts der Gekreuzigte

Unser vorletztes Tā (zumindest nach aktuellem Stand, denn wer weiß, welche neuen Tās die Zukunft bereithält) ist noch relativ jung. Es entstand im Kontext der Verbreitung des Christentums und der Bibel in China, und gab ursprünglich das Personalpronomen der 3. Person Singular für Jesus und (den christlichen) Gott wieder. Heute bezieht es sich auf Gottheiten aller Religionen. Von dieser Perspektive aus sind höhere Wesen wohl geschlechtslos.

Der linke Bestandteil des Zeichens, also 礻, ist das Radikal für „Verehrung“ oder „anbeten“ und schreibt sich in seiner alleine stehenden Form als 示. Also durchaus passend für Gottheiten.

(Noch ein Hinweis für die etwas Nerdigeren unter uns: Das Zeichen 祂 ist eine gute Erinnerung daran, dass bei allen Zeichen mit dem Radikal 礻die eigenen Augen ganz weit auf sein müssen, denn dieses Radikal ist ein ganz anderes als das Radikal 衤, das einen Strich mehr aufweist, alleine als 衣 steht und „Kleidung“ bedeutet. So gibt es auch ein Zeichen yí 衪, das nicht mit unserem Tā für Gottheiten 祂 zu verwechseln ist und recht profan so etwas wie „Ärmel“ bedeutet – oder besser gesagt „bedeutetE“, denn es ist heutzutage sehr selten. Durch das Blogschreiben lerne auch ich echt viel).

Sechstes Tā: X也

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Eine der vielen, vielen Schönheiten des chinesischen Schriftsystems ist seine Dynamik. Sie ist im konstanten Wandel und kann ohne größere Probleme auch neue Schriftzeichen integrieren – wie ja auch in den bislang vorgestellten Zeichen durchaus sichtbar wurde.

Und es kann, auch wenn das eigentlich nie geschieht, zumindest theoretisch auch Elemente anderer Schriftsysteme aufnehmen. Eigentlich nie? Ja, eigentlich nie, denn es gibt mindestens eine Ausnahme: die Kombination X也, die genau das tut. Auch dieses Zeichen wird „tā“ ausgesprochen und ist ebenfalls ein Personalpronomen der dritten Person Singular. Es bezieht sich ausschließlich auf Personen (also: keine Gegenstände, Tiere oder Gottheiten), aber ohne eine Zuordnung in Bezug auf ihr Geschlecht vorzunehmen – daher das X an der Stelle von 亻(vom Pronomen für „er“) bzw. 女 (vom Pronomen für „sie“). Auf gewisse Weise kehrt es damit zur Quelle all dieser Tās zurück, denn das ursprüngliche 他, das in diesem Artikel als erstes erschien, war ja eben auch geschlechtsneutral, nur halt im Vormodernen Chinesisch.

Streng genommen ist es also kein eigenes Zeichen, sondern eine Kombination aus X und 也. Aber wer weiß, vielleicht schafft diese Zusammensetzung eines Tages tatsächlich als geeintes Zeichen den Sprung in die Welt der chinesischen Schrift.

Dieses Zeichen kann zum einen für nicht-binäre Personen oder aber einfach als geschlechtsneutrales Pronomen für alle Menschen verwendet werden (vielleicht ein bisschen wie das berühmte „they“ im Englischen). Zum gleichen Zwecke auch beliebt: die Version TA in lateinischen Buchstaben.

Bonus: tān 怹

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Wer jetzt noch nicht im Wald der Tās verloren ist: Herzlichen Glückwunsch! Zur Belohnung gibt es hier noch ein kleines Schmankerl zum Abschluss: ein Personalpronomen für die dritte Person Singular, das sich gar nicht „tā“, sondern „tān“ ausspricht, und das auch zu den eher obskureren Zeichen gehört: 怹. Es verweist auf respektvolle Art und Weise auf eine andere Person, also jemanden, der älter oder gesellschaftlich höher gestellt ist als man selber. Im Deutschen kommt vielleicht am allerehesten so etwas wie z.B. „der Herr“ oder „die Dame“ (statt „der Mann“/ „er“, „die Frau“/ „sie“ usw.) an diese Bedeutungsebene heran.

Diese Bedeutung spiegelt auch die Zusammensetzung des Zeichens wieder: Oben sehen wir das bereits bekannte Tā 他 für „er“ (bzw. damals ja noch für alle Geschlechter), unten ein Herz 心: Also nicht nur irgendein „Er“ oder irgendeine „Sie“, sondern jemand, dem ich im Herzen eine besondere Aufmerksamkeit schenke.

Dieses Zeichen, ja überhaupt dieses Wort, entstand in der Yuan-Dynastie (1271-1368), eine überaus interessante Dynastie, denn während dieser Zeit stand China unter mongolischer Herrschaft. Vermutlich fand dieses Zeichen über eine oder mehrere Sprachen der ethnischen Minderheiten des Nordostens Chinas ihren Weg ins Mandarin.

Zur gleichen Zeit und wahrscheinlich auf demselben Wege erreichte ein heute noch in Nordchina verwendetes Zeichen und Wort die chinesische Sprache: nín 您. Dieses Wort hat tatsächlich ein Pendant im Deutschen, nämlich „Sie“ – großgeschrieben, als zweite Person Plural (also wie in „Frau Wang, haben Sie morgen Zeit?“). Es besteht ähnlich wie das hier beschriebene Tān oben aus dem Zeichen für „du“ nǐ 你 und unten wieder dem Herz 心.

Das Zeichen tān 怹 stellt also letztlich ein Siezen in der dritten Person Singular dar. Cool oder?

Und jetzt?

In welche Richtung geht es weiter? Viele Straßen im nächtlichen Taibei

Man kann das natürlich alles herrlich weiterspinnen und ein bisschen mit den Zeichen spielen. Zum Beispiel: Wäre es nicht auch toll, wenn es auch eine weibliche Version des Zeichens tān 怹 gäbe? Also tā 她 für „sie“ oben, dazu unten ein Herz 心? Möglich wäre es. Oder: Könnte man nicht noch weitere Tās erfinden? Beispielsweise sind Pflanzen ja Lebewesen, aber keine Tiere – wäre da nicht ein entsprechendes „Es“ super, also z.B. ein Baum 木 und ein 也? Oder: Sollte man ein neues Tā zum Verweisen auf Künstliche Intelligenz einführen?

Ich habe mal ein paar Zeichen erfunden. Von links nach rechts: Ein Zeichen für ein respektvolles „Sie“ (Singular); ein Zeichen für „Es“, wenn eine Pflanze bezeichnet wird; ein Zeichen für „Es“, wenn KI bezeichnet wird, bestehend aus einem Auge 目 und 也. (ein Auge weil KI vieles sieht und gleichzeitig auch einen selber sehr genau beobachtet. Und weil sie sich letztlich aufs Sehen (und Wiedergeben) beschränkt, zumindestens noch.)

Der Phantasie sind da wohl nur wenige Grenzen gesetzt, nämlich immer dann, wenn es ein Zeichen schon gibt. Was zum Beispiel nicht möglich wäre: ein „Es“ für Gewässer ließe sich nicht durch Wasser 水 (als links stehender Radikal immer 氵) plus der im Großteil der Zeichen für die Pronomen der dritten Person Singular enthaltenen Komponente 也 wiedergeben, denn es gibt bereits das Zeichen 池 (Teich). Ähnlich verhält es sich mit einem „Es“ für Pferde, denn die chinesische Schrift kennt schon das Pferd 马 mit einem 也:das Zeichen 驰 bedeutet „galoppieren“. Da ist dann wohl etwas Kreativität gefragt.

Fazit

Liebe Leserschaft, ich hoffe dieser kleine (hust) Überblick hat euch gefallen. Zugegebenermaßen hatte ich nicht damit gerechnet, meinen Sonntagnachmittag mit dem Erfinden chinesischer Schriftzeichen zu verbringen, aber so ist wohl manchmal das Life als Sinologin. Jedes chinesische Zeichen wurde irgendwann von irgendwem erfunden, also warum nicht auch mal durch uns alle?

Eure auch nach all den Jahren immer noch von der chinesischen Schrift angetane Charlotte

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