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Diese Zeichen bedeuten "Unfall" oder "unvorhergesehen". Mit Mythen möchte dieser Artikel ein bisschen aufräumen, aber trotzdem gilt für Chinesisch: Expect the unexpectable. Unfälle sollte es aber wirklich nicht geben (v.a. nicht, wenn man mit den gängigen Mythen aufgeräumt hat...)

Mythen über die chinesische Sprache

Oder: Ist wirklich jedes Wort ein Bild?

Liebe Leserschaft,

willkommen oder willkommen zurück auf unterwegszeilen – einem Blog über die Reiserei durch China und andere Länder, aber auch über das Studium in China und die chinesische Sprache an sich. Um Letztere soll sich der heutige Blogeintrag drehen.

Denn häufig gestaltet sich das Chinesischlernen ja doch so: Noch bevor das erste Wort gelernt oder das erste Zeichen geschrieben ist, gab es Kontakte mit diversen (mal mehr, mal weniger zutreffenden) Aussagen über die chinesische Sprache. Nennen wir sie mal: Mythen. Und mit ein paar dieser Mythen möchte der heutige Eintrag aufräumen.

Dieser Eintrag richtet sich also vor allem an diejenigen unter euch, die noch kein Chinesisch gelernt haben oder gerade am Beginn ihrer Chinesisch-Reise stehen (eine der schönsten Reisen übrigens, die es gibt! Und zugleich eine, die nie so ganz endet 😀 Der Weg ist das Ziel, würde ich mal sagen). Und es soll heute schwerpunktmäßig (aber natürlich nicht ausschließlich) um Mythen zur chinesischen Sprache an sich gehen, weniger um Mythen in Bezug auf das Lernen dieser Sprache. Fangen wir an!

1. Mythos: Chinesisch ist eine geheimnisvolle Sprache

Darstellung eines Drachenbootrennens in der U-Bahn in Nanjing.
Streng genommen nicht auf einem Mythos, sondern auf einer Legende fußend: die chinesischen Drachenbootrennen (wohl ein Thema für einen anderen Blogeintrag)

Mythos: Der erste und unbewusst vielleicht auch häufigste Mythos über die chinesische Sprache ist wohl dieser: Chinesisch an und für sich ist schon ein Mythos. Es kommt vielleicht durch diese irgendwie magisch anmutende Schrift. Oder durch diese fast schon verzaubernd wirkenden Töne. Spin-off von diesem Mythos: Also muss Chinesisch auch echt schwer zu lernen sein.

Fakt: Die Realität sieht dann doch etwas anders aus. Ja, Chinesisch kann Leute wirklich in seinen Bann ziehen, aber das liegt (in meinen Augen) weniger daran, dass Chinesisch ach so magisch ist, und mehr an seiner inhärenten Coolness.

Chinesisch ist super, aber es ist halt letztlich auch eine Sprache wie jede andere. Sie hat ihre Besonderheiten und sie hat ihre special features. Aber sie ist letztlich auch einfach nur ein Mittel zur Kommunikation mit anderen Menschen. Nichtsdestotrotz ein sehr schönes.

2. Mythos: Chinesisch unterteilt sich in Mandarin und Kantonesisch

Elefant mit sechs Stoßzähnen in Chengdu, ein Symbol für den Buddha

Mythos: Auch sehr verbreitet, und irgendwie mit einem wahren Kern – die Vorstellung, dass sich „Chinesisch“ als Obersprache in Mandarin und Kantonesisch klassifizieren ließe, und sonst nichts.

Fakt: „Chinesisch“ ist letztlich eher ein Oberbegriff für eine Vielzahl an Dialekten und Sprachen, die mal mehr, mal weniger miteinander verwandt sind. Wie so oft bei Sprachen gibt es dann eine Standardsprache, in diesem Falle nämlich Mandarin / Hochchinesisch (das was ich in diesem Blog und anderswo immer so salopp immer als „Chinesisch“ bezeichne).

Karte der chinesischen Sprachen. Attribution: Wyunhe, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons .

Von allen Dialekten („Untersprachen“?) ist Kantonesisch wohl der prominenteste und bekannteste. Er ist Alltagssprache in Hongkong und Macao und wird in vielen Übersee-Communities gesprochen. Für Kantonesisch gibt es Lehrwerke und Sprachkurse, für viele andere Dialekte nicht unbedingt.

Man kann sich all diese chinesischen Sprachen (vielleicht) ein bisschen wie die europäischen Sprachfamilien vorstellen. Die chinesischen Dialekte sind in ihrer Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit in gewisser Weise vergleichbar mit den verschiedenen romanischen oder slawischen Sprachen. Ganz wichtig: Viele der in China gesprochenen Sprachen sind wiederum gar nicht mit Mandarin & Co. verwandt, sondern entstammen gänzlich anderen Sprachfamilien. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Uigurische ist beispielsweise eine Turksprache.

3. Mythos: Jedes Zeichen ist ein Wort

Beispiel für ein Wort, das aus nur einem Zeichen besteht – ràng 让, wörtlich „lassen“

Mythos: Diese Zeichen! Gibt da wirklich jedes ein Wort wieder?

Fakt: Ein Zeichen ist nicht immer auch ein Wort. Im ganz alten Chinesisch war dies der Fall, aber Sprachen wandeln und verändern sich, so eben auch die chinesische. Es kommt vielleicht auch ein bisschen darauf an, wie man „Wort“ definiert – eine Frage, über die die Linguistik ganze Doktorarbeiten parat hätte.

Aber bleiben wir mal bei einem Beispiel: Im Deutschen kennen wir beispielsweise das Wort „Zug“. Die chinesische Sprache verwendet für dieses Wort nicht ein einziges Zeichen, das alleine „Zug“ bedeutet, sondern gibt dieses Wort durch zwei Zeichen wieder: huǒchē 火车 . Das erste Zeichen (huǒ 火) stellt ein Feuer dar, das zweite (chē 车) einen Wagen, also: Feuer-Wagen. Soll heißen: Ein Wort, zwei Zeichen.

Es müssen auch nicht immer genau zwei Zeichen ein Wort bilden (auch wenn das am häufigsten der Fall ist): Einige Wörter bestehen aus einem Zeichen, z.B. Hand shǒu手, Vogel niǎo 鸟 oder die zwei genannten Feuer huǒ 火 und Wagen chē 车. Andere Wörter bestehen aus drei Zeichen (z.B. Fahrrad zìxíngchē 自行车 – wer jetzt noch aufpasst, wird am Ende des Wortes wieder den Wagen gesehen haben, denn ein Fahrrad ist auf Chinesisch ein „sich selbst bewegender Wagen“) oder sogar noch mehr Silben (z.B. Expressionismus biǎoxiànzhǔyì 表现主义) und so weiter.

4. Mythos: Jedes Zeichen zeigt einen Gegenstand

Plan der Kunminger U-Bahn
Galt lange als Mythos, bis sie dann 2013 wirklich kam: die U-Bahn in Kunming.

Ein weiterer Mythos, der sich hartnäckig hält und der auch irgendwie nachvollziehbar ist, lautet: Jedes Chinesische Zeichen stellt einen Gegenstand dar.

Auch das ist wohl etwas Definitionssache, aber eigentlich stimmt diese Aussage nur so halb. Viele chinesische Zeichen sind Piktogramme, d.h. sie bilden eine Sache ab: Berg shān 山,Mond yuè 月, Baum / Holz mù 木,Herz xīn 心,Mensch rén 人,ebenso das gerade erwähnten Zeichen für Feuer huǒ 火。Was aber mit Ausdrücken, die streng genommen keine (physische) Sache sind? Anders ausgedrückt: Es drängt sich früher oder später die Frage auf, wie man eigentlich nicht-Gegenständliches darstellen kann.

Die Antwort: durch Kombinationen von mehreren Gegenstands-Zeichen. Zwei Beispiele: „Sich ausruhen“ 休 besteht aus einem Menschen 人, der sich an einen Baum 木 lehnt. Oder: eines der Zeichen für „lieben“ 好 sind eine Frau 女 und ein Kind 子。

Noch ein Bild aus der U-Bahn: Leider kein Mythos, sondern harte Realität – die berühmte chinesische Fruit Pizza. Hier mit Durian. Klassisches Beispiel für Localization, in diesem Fall durch Pizza Hut.

So weit so gut?

Es gibt noch eine weitere Kategorie, die schon ein bisschen next-level ist, aber da dieser Blog ja doch einen gewissen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und da die meisten chinesischen Zeichen tatsächlich in diese Kategorie fallen, soll sie nicht unerwähnt bleiben. Das Prinzip ist eigentlich ganz einfach: Diese Zeichen setzen sich aus einem Aussprache- und einem Bedeutungshinweis zusammen. Soll heißen: Eine Komponente des Zeichens gibt einen Hinweis (viel mehr aber eigentlich auch nicht) auf die Aussprache des Zeichens, eine andere auf die Bedeutung. Zum Beispiel:

Verwirrt huò 惑 besteht aus dem Bedeutungshinweis Herz 心 (unten) und dem Aussprachehinweis huò 或 (oben). Also: Klingt wie huò und hat was mit Gefühlen zu tun.

Öl yóu 油 setzt sich aus dem Bedeutungshinweis Wasser 氵(links) und dem Aussprachehinweis yóu 由 (rechts) zusammen. Also: Klingt wie yóu und hat was mit einer Flüssigkeit zu tun.

Die Aussprachehinweise sind heute natürlich, da sich die chinesische Sprache über die Jahrhunderte verändert hat, nicht immer akkurat. Und manche Bedeutungshinweise verlangen schon sehr viel Phantasie. Aber irgendwie macht es das auch interessant.

Long story short: Auch diese Zeichen sind im engeren Sinne keine Piktogramme. Also: Nein, bei Weitem nicht jedes Zeichen zeigt einen Gegenstand.

5. Mythos: Es gibt keine Grammatik

Werbung für zuckerfreien Tee in Peking, China
Werbung – da weiß man auch nie, was Wahrheit und was Mythos ist (Text etwa „Eine neue Generation Chinas – zuckerfreier Tee“). Für die Chinesischlernenden: eine schöne Verwendung des Zähleinheitsworts dài 代

Mythos: Eigentlich gibt es keine chinesische Grammatik. Man reiht die Wörter einfach irgendwie aneinander.

Ach, wenn dem doch nur so wäre!

Fakt: Die chinesische Sprache verfügt sehr wohl über eine Grammatik. Sie ist an und für sich sehr logisch, aber für Menschen, die zuvor v.a. europäische Sprachen gelernt haben, halt einfach sehr neu und anders. Sie besticht (zunächst) durch die Abwesenheit von Konjugationen, Deklinationen und den damit einhergehenden potenziellen Ausnahmen. Aber nur weil sie keine „europäischen“ Strukturen kennt, heißt das eben nicht, dass die chinesische Grammatik nicht vorhanden wäre. Das merkt man spätestens im Sinologiestudium, wenn man sich mit den gefühlt unzähligen Funktionen der kleinen, aber sehr wichtigen Partikel le 了 beschäftigen darf oder sich mit Ergebnis- und Richtungskomplementen auseinandersetzt – alles coole Sachen, aber mitunter etwas fisselig.

Hier wird ein Mythos (oder genauer gesagt, eine Legende) sogar gefeiert: Fackelfest in Lufeng in Yunnan. Beim Fackelfest feiern die Yi die Beendigung einer Heuschrecken-Plage durch den legendären Atilabia, der diese Heuschrecken mit Feuer vertrieb.

Liebe Leserschaft, so viel zu den Mythen über die chinesische Sprache. Es gibt sicherlich noch einige mehr, aber keiner von ihnen soll euch davon abhalten, es mit Chinesisch einfach mal zu versuchen. Wird schon schiefgehen!

Eure sich nicht mehr bewusst an alle Funktionen der kleinen-aber-sehr-wichtigen Partikel le 了 erinnernde Charlotte


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