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Das halbe Leben, zumindest der Deutschen

Oder: Die Allwetterjacke spricht Bände

Liebe Leserschaft,

seit geraumer Zeit bin ich nun zurück in meinem kalten Heimatland und besuche hier Lehrveranstaltungen eines norddeutschen Elfenbeinturms. Es läuft auch alles ganz gut. Und wie immer nach der Rückkehr aus dem Ausland, sei es für zwei Wochen Sonne in Spanien oder drei Wochen…noch mehr Sonne in den USA (denn der Eindruck trügt: Allen eifrig installierten Solarzellen zum Trotz zählt „Sonne“ nicht zu den Stärken des kalten Heimatlandes) – der Blick für die Eigenschaften „der Deutschen“ ist deutlich geschärft.

Halt, gibt es das überhaupt? „Die Deutschen“? Ein guter Einwand. Ist es eine Frage des Passes? Der Identität? Des Zusammengehörigkeitsgefühls? Irgendeiner Gemeinsamkeit? Ich muss gestehen: Ich habe aufgehört, zu versuchen, „die Deutschen“ zu definieren. Anlässe hat es mittlerweile genug gegeben, denn „die Chinesen“ fragen sehr gerne ausländische Helden nach den Gepflogenheiten ihrer jeweiligen Heimatländer, auch der kalten: „Esst ihr Deutschen eigentlich auch alle Reis?“, „Fahrt ihr Deutschen alle einen Mercedes?“, „Wie viel Bier trinkt ihr Deutschen so am Tag?“ Nie habe ich es ausprobiert, doch ich wage mal die These aufzustellen, dass, wer derlei Fragen mit „Was meinen Sie mit „Deutsche“?“ begegnet, in verwirrte Gesichter blicken wird, gefolgt von dem Rat, noch ein bisschen mehr Chinesisch zu lernen, diese ach-so-schwere, jahrtausendealte, heldenhafte Sprache. Also sage ich: „Ja“, „Nein“ und „kommt drauf an, manche bevorzugen auch Wein.“

Also, die Deutschen. Vor langer, langer Zeit, im Sprachkurs an der Yunnan University, lernten wir ein Wort: jingsui 精髓. Jingsui ist nicht ganz leicht zu übersetzen, letztlich bedeutete es so etwas wie „Quintessenz“. Das erste Zeichen, jing 精, bedeutet etwas wie „Essenz, Extrakt“, das zweite, sui 髓, kennt man v.a. als das „Mark“ in „Knochenmark“ (gusui 骨髓). Man kann jingsui aber auch auf eine ganze Kultur beziehen, z.B. die chinesische. Optimisten werden sagen: „Das jingsui der chinesischen Kultur ist der Konfuzianismus.“ Pessimisten werden dagegen halten: „Das jingsui der chinesischen Kultur ist die Unterdrückung.“ Idealisten eher alten Schlages werden beharren: „Das jingsui der chinesischen Kultur ist natürlich der Marxismus-Leninismus!“ Realisten werden die Schultern zucken, einen Blick auf die glitzernden Konsumtempel Chinas werfen, in denen eine ganz andere Art des Klassenkampfs ausgefochten wird, und feststellen: „Das jingsui der chinesischen Kultur ist der Materalismus.“ Denn wie war das mit der Farbe der Mäuse fangenden Katze?

Nun denn. Anschließend fragte unsere Lehrerin die deutsche Studentin: „Was ist das jingsui der deutschen Kultur?“ Diese wurde abrupt aus ihren Tagträumen, in denen sie grübelte, ob nicht die Liebe zum Essen letztlich auch das jingsui Chinas sein könnte, das Optimisten, Pessimisten, Idealisten und Realisten vereinen würde, und ob es nicht jetzt Zeit für ein paar praktische Studien diesbezüglich wäre, zurückgeholt. „Äh. Äh. Das jingsui der deutschen Kultur. Ähm. Ich glaube, die Stabilität.“

So ganz war das nicht das, was die ausländische Studentin sagen wollte, fehlte ihr doch ein Wort: Ordnung. Denn die ist, wie die Deutschen zu sagen pflegen, das halbe Leben. Natürlich gibt es Übersetzungen dieses Wortes, doch können sie nicht all die Dimensionen umfassen, die „Ordnung“ enthält.

Liebe Ausländer, was ist Ordnung? Wir Deutschen werden es nicht definieren können, also brauchen wir euch dafür. Ich würde es mal so umschreiben: Alles hat seinen Platz. Der Bus fährt zu einer bestimmten Uhrzeit von einer bestimmten Haltestelle ab, danach fährt er weitere Haltestellen zu bestimmten Uhrzeiten an, kommt er zu spät (oder auch: zu früh), blicken die Deutschen finster drein. Und: Die Deutschen kennen Fristen und Termine und halten sich an sie. Sie füllen alles aus, was auszufüllen ist, oft widerwillig, aber so ist sie nun mal, die Ordnung, die oft mit der Bürokratie Hand in Hand geht.

Der Vorteil dürfte auf der Hand liegen: die von der ausländischen Studentin genannte Stabilität. Die Deutschen wissen: Wenn auf dem Busfahrplan steht, dass der Bus um 9.46 Uhr hier abfährt, dann wird er das auch, wobei ein, zwei Minuten Toleranz zulässig sind, aber mehr dann auch nicht. Wenn man ihnen erzählt, dass es Länder gibt, in denen es eigentlich kein öffentliches Bussystem gibt (manche Strecken der USA) oder Länder, in denen der Bus halt fährt, wie er fährt, und man ihn, sobald man ihn erspäht, unter Einsatz aller Extremitäten heranwinken muss (manche Strecken Indonesiens und vieler anderer Länder), machen sie große Augen. Es wäre doch so leicht, einfach mal einen kleinen Fahrplan zu erstellen, WARUM TUT DAS DENN NIEMAND??

Stabilität, Vorhersehbarkeit, Zuverlässigkeit. Das ist hierzulande ganz, ganz wichtig. Tritt Unvorhergesehenes ein, werden die Deutschen unruhig bis panisch. Hilfe, der Zug ist zu spät! Es gilt, auf alles vorbereitet zu sein. Ein schönes Beispiel ist die Allwetterjacke. Praktisch geht hier vor ästhetisch, denn Deutschland ist ein Land mit vier Jahreszeiten (kalt, sehr kalt, kalt, warm), das von seinen Bewohnern verlangt, sich jeden Tag zu überlegen, wie sie sich am besten auf das vor der Tür herrschende, oftmals wankelmütige Wetter vorbereiten. Scheint morgens die Sonne, kann es trotzdem nachmittags regnen. Ist es morgens frisch, kann trotzdem nachmittags brütende Hitze ausbrechen, oder zumindest das, was in Deutschland als „brütende Hitze“ gilt. Kein Problem – für alle Eventualitäten gibt es Kleidungsstücke, und idealerweise trägt man solche, die für mehrere Wetterlagen geeignet sind, wovon natürlich die Allwetterjacke die Kür ist. Das Bild der Deutschen, die Socken in ihren Sandalen tragen, rührt auch hierher: Wird es wärmer, zieht man die Socken aus, wird es dann wieder kälter, legt man sie wieder an. Praktisch vor ästhetisch, wie gesagt. Auch wenn Franzosen, Briten, Spanier, Italiener und der Rest der Welt über uns lachen: Unsere Füße bleiben geschützt vor Kälte, Blasen, Sonnenbrand. Ha! Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Planung ist in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig. Der Deutsche weiß stets, was er in den kommenden Monaten wann und wo tun wird, ständig läuft im Hintergrund seines Hirns eine Liste mit Dingen ab, die für die diversen Pläne zu erledigen sind. Ich muss nachher einkaufen, die Milch wird bald schlecht. Ich muss mich nächste Woche für meine Uni-Kurse anmelden, dafür muss ich ab heute das Vorlesungsverzeichnis studieren. Nächsten Monat hat meine Mutter Geburtstag, ich muss mich mal die Tage mit meinen Geschwistern kurzschließen, ob wir was zusammen schenken wollen, und wenn ja, was, und dabei berücksichtigen, dass wir letztes Jahr nicht alle gleich viel bezahlt haben, das müssen wir natürlich dieses Jahr verrechnen, aber kein Problem, ich habe mir das ja alles letztes Jahr extra aufgeschrieben.

Mögen die Deutschen eigentlich ihre Ordnung? Mein Eindruck ist, dass das Verhältnis eher eine Hassliebe ist. „Wo kämen wir denn da hin!“, lautet eine häufige Antwort auf Fragen, die zu erkunden versuchen, wie die Deutschen auf eine Zerbröckelung ihrer Ordnung reagieren könnten. Doch es gibt auch Freiräume. Ein schönes Beispiel ist der Straßenverkehr. Wenn der Deutsche sein Haus verlässt, fährt er Schritttempo in der Spielstraße (ein Konzept, das, soweit ich weiß, in den wenigsten anderen Ländern vorhanden ist), zwanzig in Zwanzigerzonen, dreißig in Dreißigerzonen, er kennt die Ortsgeschwindigkeit und auch verschiedene Geschwindigkeitsbeschränkungen zwischen 70 und 120 auf Landstraßen, aber dann! Achtung! Autobahn! Hier kann er mal so richtig die Sau rauslassen, wie man so schön sagt. Adieu, Spielstraße! Jetzt geht’s richtig los. Zwar gibt es auf vielen Autobahnen (mittlerweile) Tempolimits, aber auf vielen Abschnitten eben auch nicht. Und dann. Dann! Oho!

Ausländer mögen den Kopf darüber schütteln, dass in Deutschland, dem Land der Ordnung, keine Geschwindigkeitsbeschränkung auf den Autobahnen existiert, und Parallelen zu anderen Vorschriften ziehen (z.B. was Altersbeschränkungen für Alkoholkonsum betrifft, das Konzept „Raucherkneipe“ usw.) Aber sie mögen auch die (nicht ganz unberechtigte) Theorie aufstellen, dass die Deutschen auch mal jenseits der Ordnung leben wollen, die ja eben doch nur das halbe Leben ist, und manchmal sehnen wir uns wohl alle auf die andere Seite.

Ihr Lieben, ich würde mich freuen, zu hören, was ihr von dieser Sache mit der Ordnung haltet. Ist es das jingsui der Deutschen? Wenn nein, was dann? Und wer oder was sind überhaupt „die Deutschen“?

Eure meistens halbwegs vorbereitete Charlotte

Foto über Pixabay

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