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Singles‘ Day: Ein Land im Kaufrausch

Oder: Bei Jack Ma klingelt die Kasse

Liebe Leserschaft,

es ist November. Das bedeutet: Der Winter wirft seine Schatten voraus und ich bin Nacht für Nacht sehr dankbar für meinen High-Tec-Schlafsack,denn wie überall in der südlichen Hälfte Chinas gibt es in Nanjing keine Zentralheizung. Immerhin findet sich in meinem Zimmer eine „kongtiao“ 空调, eine Klimaanlage, die sowohl abkühlen als auch heizen kann. Ökologisch eine Katastrophe und außerdem auf lange Sicht unangenehm, da die von ihr ausgespuckte Luft sehr trocken ist. Bislang habe ich es also erfolgreich gemieden, dieses Gerät einzuschalten, doch ist dieser Schritt auch nicht mehr weit weg,denn wenn man seinen eigenen winterlichen Atem sieht, sind Bedenken ob der Trockenheit der Luft absolut peripher.

November heißt auch: Die Uni macht sich bemerkbarer als es in den letzten Wochen der Fall war, denn Ende Dezember sind die Klausuren, und dann wären da noch ein größerer Vortrag und ein paar Hausarbeiten. Es bricht somit langsam jene Phase an, die ich immer „Zeit, in der man nichts machen kann, was Spaß macht“ nenne, einen Ausdruck, den man wohl nicht noch weiter erklären muss. Ich hoffe, dass ich trotzdem etwas zum Blogschreiben kommen werde, und überhaupt: Ausnahmen dürfen gemacht werden.

November bedeutet aber noch etwas ganz anderes für alle, die…ja, was eigentlich? Einen Internetzugang haben? Ab und an Sachen kaufen? Nicht völlig pleite sind? Es ist Singles‘ Day!! Auf Chinesisch: Guanggunjie 光棍节 oder Shuang Shiyi 双十一,die doppelte Elf, der 11.11., vier einsame Einsen. An diesem Tag lockt DIE chinesische Online-Einkaufsplattform Taobao 淘宝 eines gewissen Jack Ma (Ma Yun 马云), der anscheinend auch im Ausland einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, mit den billigsten Schnäppchen, die man sich nur vorstellen kann. Ich habe versucht, Zahlen über den Umsatz auf Taobao am Singles‘ Day zu finden, aber sie sind zu widersprüchlich. Alle Quellen reden von Summen im Milliardenbereich, manche stellen Vergleiche mit der jährlichen Wirtschaftsleistung Afghanistans oder Honduras‘ an. Ich bin kein Zahlenmensch, also sei einfach gesagt: Bei Alibaba klingelte die Kasse. Man schien aber vorbereitet: Taobao brach nicht zusammen oder sonstwas, der Andrang schien niemandem zu erstaunen.

Auf Taobao gibt es wirklich ALLES: natürlich Kleidung, Bücher und elektronische Geräte jeder Art, aber auch Möbel (Betten, Schränke…mein aktuelles Regal stammt von Taobao), Fahrräder (!), Lebensmittel (Müsli!!) oder Sachen, die eigentlich in gar keine Kategorie passen, z.B. mein neues Gerätchen, mit dem man USB-Sticks ans Handy anschließen kann (ich werd verrückt!), das ich beim diesjährigen Singles‘ Day für 4 RMB (51 Cent) erstanden habe. Denn darum geht es: Sachen kaufen. Und noch mehr kaufen. Dann auf Vorrat kaufen, man weiß ja nie. Geschenke für das kommende Jahr besorgen. Dinge kaufen, bei denen man vorher zögerte, denn jetzt heißt es: zuschlagen! Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich habe beim Singles‘ Day (am 11.11. kurz nach Mitternacht, versteht sich) bei Taobao insgesamt 300 RMB (38 €) gelassen und dafür einen ganzen Haufen Zeug erhalten: diverse Bücher für ein Gebilde, das hoffentlich eines Tages meine Masterarbeit wird, besagtes Gerätchen, eine weiße Bluse, die ich für das offizielle Abschlussfoto tragen werde (gibt da einen Dress Code), eine flauschige Wärmflasche und ein Gebärdensprachen-Wörterbuch.

Am 12. 11. sprach ich mit einer chinesischen Freundin über den Singles‘ Day. O-Ton:

Und, was hast du gekauft?

Nichts.

Gar nichts? Warum das denn?

Ich habe letztes Jahr 4000 RMB (510 €) beim Singles‘ Day ausgegeben und es war einfach zu viel. Zu viel Geld und zu viele Sachen… jedenfalls wollte ich dann dieses Jahr einfach nicht mehr.

Das ist natürlich verständlich, denkt man sich dann als ausländische Heldin und linst verstohlen auf das Handy, ob Abholbenachrichtigungen von Taobao-Paketen eingegangen sind. Das ist es nämlich: Die Waren müssen ja noch von A nach B. „Ware“ ist natürlich gar kein schönes Wort für all die mehr oder weniger sinnvollen Käufe auf Taobao, also heißen sie dort „Baobei“ 宝贝。Baobei ist ein Anglizismus und bedeutet „Baby“. Das Wort kann tatsächlich einen Säugling bezeichnen oder aber auch eine Kosebezeichnung unter Paaren sein, ähnlich wie im Englischen. Wo der Deutsche also einen schlichten, ernsten Button „Sendungsverfolgung“ sucht, klickt der Chinese auf Taobao auf „Wo ist mein Baobei?“, „Wo ist mein Schätzchen?“, um dann zu erfahren, in welcher Stadt sich das heiß ersehnte Baobei um wie viel Uhr als letztes befand.

In den Tagen nach dem Singles‘ Day sieht man Unmengen Chinesen sich schwer beladen mit Paketen nach Hause schleppen, alles Baobeis von Taobao. Laster voller Baobeis fahren quer durch China. Paketboten schnallen Baobeis aller Größen und Formen auf ihre Elektroroller und machen Überstunden, um sie rechtzeitig zu ihren Käufern zu befördern. Paketstationen platzen aus allen Nähten, denn die Regale reichen nicht mehr, um alle Baobeis zu fassen, weshalb auf den Bürgersteig ausgewichen werden muss oder, wie in der Hauptstation der Universität Nanjing, ein großes Zelt an die eigentliche Station gebaut wird, damit die Baobeis vor Wind und Wetter geschützt sind. Und auch die Verfasserin dieser Zeilen freut sich unheimlich, wenn sie eine SMS erhält, dass wieder ein Baobei in der Abholstation ihres Wohnheims bereit liegt. Nichts wie hin! Die Uni kann warten.

Wie so viel Bedeutendes in der chinesischen Geschichte stammt auch der Singles‘ Day aus Nanjing. Irgendwann Anfang der 2000er Jahre, also vor dem Ausbruch des chinesischen Smartphone-Wahns, unterhielten sich vier Studenten abends in der Dunkelheit ihres Wohnheims der Universität Nanjing (damals wurde zu einer bestimmten Zeit der Strom abgestellt) über Träume im Leben und stellten fest: single zu sein ist gar nicht so übel. Man kann machen, was man will, und hat keine Freundin, die ständig misstrauische Fragen stellt. Warum sollte es kein Fest geben, das Singledasein zu feiern? Und welcher Tag wäre dazu geeigneter als der 11.11. mit seinen vier einsamen Einsen? Und so war der Singles‘ Day geboren und griff schnell um sich. Was als Rabattaktion einzelner Läden in einer einzelnen Stadt begann, erreichte irgendwann die Ohren und v.a. den Geschäftssinn Jack Mas, der den Singles‘ Day auf Taobao einführte, eine Rabattschlacht, die ein enormer Erfolg wurde.

Denn der 11.11. hat nicht nur eine symbolische Bedeutung, er ist auch überaus praktisch. Gehälter werden in der ersten Woche eines Monats ausgezahlt, am 11. ist also noch Geld im Portemonnaie. Es naht im November das Ende des Geschäftsjahres, also müssen die Lager geleert werden. Und: eine Milliarde Menschen im Kaufrausch können nur gut fürs Geschäft sein. Jahr für Jahr werden Rekorde gebrochen, Jahr für Jahr wechseln unzählige Baobeis ihre Besitzer.

Ach China, du kapitalistischer Spielplatz.

Eure noch auf zwei Baobeis wartende Charlotte

Foto von Pixabay

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