Oder: Sechs Meilensteine des Wurzelschlagens
Liebe Leserschaft,
wie die Zeit vergeht! Es ist nun meine vierte Woche in Peru, und manchmal kommt es mir vor, als sei ich hier schon eine richtig alte Häsin, und manchmal, als sei ich gerade erst mit dieser schönen Mischung aus Neugier und Müdigkeit in Lima aus dem Flugzeug gestiegen. Die Wahrnehmung von Zeit ist halt fast immer subjektiv.
Wenn man so darüber nachdenkt, gibt es immer zwei verschiedene Ankünfte. Die eine ist die physische – der Fuß auf Neulandsboden, der Stempel im Pass, das erfolgreich auf ein Gepäckwägelchen bugsierte Gepäck. Aber dann gibt es noch eine andere Form der Ankunft – um es mal etwas blumig zu formulieren: die Ankunft des Herzens, die ein bisschen mit der Zeit erfolgt und eher ein Jeföhl ist. Sie manifestiert sich einerseits in schleichenden Prozessen, seien es nun Gewöhnungsprozesse (der brausende Straßenverkehr, die stromelnden Straßenhunde) oder Lernprozesse (das nicht mehr ganz so arg kauderwelschende Spanisch). Gleichzeitig finde ich aber auch immer, dass es gewisse Meilensteine gibt, die eine (Herzens-)Ankunft ausmachen. Hier mal ein kleines, unchronologisches, unvollständiges (da man manche Meilensteine dieser Art vielleicht gar nicht als solche wahrnimmt) Listchen:
1. Duschen!
Angekommen in der neuen Bleibe, Sack und Pack von sich geworfen, was nun? Erstmal duschen und danach weitersehen. Viele Duschen haben so ihre Eigenarten, die man erst einmal ergründen muss. Wo wird das Wasser kalt, wo wird es heiß? Ach richtig: Es gibt nur kaltes. Ich werde ein Jahr lang kalt (oder zumindest, naja, nennen wir es mal „laukalt“) duschen. Soll ja eh viel gesünder sein.
Ein Untermeilenstein der Dusche vollzog sich übrigens für mich vor ein paar Tagen, als ich komplett unter dem Wasser stand, ohne das Gesicht zu verziehen oder mit den Zähnen zu knirschen, und feststellte, dass es also doch irgendwie geht. Zugeben muss ich aber auch, dass es ein klein wenig gemogelt war, denn es war ein sehr heißer Tag, das kühle Nass entsprechend erfrischend und außerdem ein paar Grad aufgewärmt.
2. WLAN (seien wir ehrlich)
Nicht ohne Grund steht auf einer Dose in der Küche einer Freundin von mir der Satz „Home is where the WiFi is.“ Es stimmt halt wirklich. Ein bedeutender Schritt des geistigen Ankommens vollzieht sich, wenn nach der Eingabe eines WLAN-Passwortes eine Verbindung mit dem entsprechenden Netzwerk verkündet wird. V.a. wenn man weiß, dass es nicht nur das Netzwerk einer Reiseunterkunft für ein paar Nächte ist, sondern für einen etwas längeren Zeitraum.
In meinem Fall…nunja. Die WG, in der ich wohne, hat an und für sich kein WLAN und ein Blick auf die Netzwerke in Reichweite ergab, dass ein Saftladen – also wirklich ein Geschäft, das sich auf frisch gepresste Säfte spezialisiert – ganz in der Nähe ein halbwegs starkes Signal hatte, das bis in die Wohnung reicht. Also nichts wie hin, einen Alibisaft schlürfen und Passwort schnorren.
Dafür war und bin ich natürlich dankbar und es lief auch ein paar Tage lang so halllbwegs glatt, bis der Saftladen anscheinend Probleme mit dem Router hatte (wie konnten sie es wagen) und ich dem Drang widerstehen musste, dort erneut aufzuschlagen, wieder einen Alibisaft zu schlürfen und mich unauffällig nach dem Stand des Saftladen-WLANs zu erkundigen. Stattdessen stiefelte ich in den nächsten Saftladen die Filiale meines Mobilfunkanbieters und erkundigte mich nach mobilen Daten, die angeblich ohnehin in meinem Paket enthalten waren. Es folgte ein ziemlich langes Aneinander-Vorbeigerede auf Spanisch und Kauderwelschspanisch, bei dem sich, glaube ich, beide Seiten fragten, wann der Geduldsfaden des Gegenübers reißen würde, aber dann! Dann war das Anliegen der extranjera identifiziert, ein langes Telefongespräch geführt und schließlich mein Handy erstens auf Spanisch umgestellt und zweitens mit dem Internet verbunden, und ich habe mir vorgenommen, nie wieder etwas gegen Movistar Peru zu sagen. Beste Truppe.
3. Auspacken
Ein großer Schritt Richtung mentaler Ankunft ist für mich auch immer dann getan, wenn ich alles, also wirklich alles, ausgepackt und mehr oder minder liebevoll in Schränke, Regale und Schubladen einsortiert habe. Reisende leben aus dem Koffer oder dem Rucksack, Angekommene aus einem (in meinem Fall: ebenso chaotischen) Schrank.
4. Kochen
Die erste gekochte Mahlzeit in einer neuen Bleibe – irgendwie auch eine zarte Wurzel, die da geschlagen wird. Ich finde Gasherde ja doch immer ein bisschen aufregend, aber ich kann stolz berichten, meine Bude noch nicht in die Luft gejagt zu haben.
5. Müll
Dieser Punkt mag etwas Peru-spezifisch sein, aber als er absolviert war, fühlte ich mich wie so ein richtig alteingesessener Mensch hier, wenngleich auch eher kurz. Denn z.B. mit all der Kocherei geht natürlich eine gewisse Entstehung von Abfall einher, den ich ungetrennt (so weit hatte ich schon gedacht) sammelte, um dann irgendwann vor der Frage zu stehen: Was mache ich jetzt damit?
Ich sah mich also mal ein bisschen im Innenhof des Gebäudes um, ohne so etwas wie einen Müllcontainer oder eine Tonne zu entdecken. Ich linste auch mal auf Straßen der Nachbarschaft, jedoch ebenfalls erfolglos. Irgendwo muss das doch alles hin! Es half alles nichts: Es musste getan werden, was ich sehr, sehr ungern tue – nachfragen, in diesem Fall bei der señorita, die am Empfang des Gebäudes arbeitet. Meine liebevoll zuvor zurechtgelegte Frage, wie nun genau mit Abfall zu verfahren sei, stieß auf eine gewisse Verdutztheit, erhielt dann aber ebenso charmant wie konkret eine Antwort: eigentlich gar nichts. Wenn die Tüte voll ist, stellt man sie unten an den Straßenrand, dann wird sie von der einmal am Tag vorbeifahrenden Müllabfuhr eingesammelt. Keine Trennung, kein Abfallkalender, keine Tonne.
Und tatsächlich stehen an den Straßenrändern zu einer bestimmten Uhrzeit verschiedene große und kleine schwarze Tüten, ihrer Abholung harrend. Diese kündigt gegen Mittag der entsprechende Lastwagen der Müllabfuhr mit einer kaum überhörbaren Glocke an, wobei zwischen Harren und Holen die diversen Geier und Hunde der Nachbarschaft die Tüten inspizieren und sich mit allem versorgen, was für sie noch essbar ist.
6. Waschen
Noch so ein Meilenstein: Kleidung waschen. Ich finde es hat durchaus immer etwas Angekommenes, wenn man seine diversen Klamotten auf einer Leine trocknen sieht und die Gewissheit hat, dass das nun die Routine sein wird. Hier übrigens von Hand.
Natürlich ist eine solche (geistige) Ankunft an einem neuen Ort weder linear noch lediglich an Schritten wie diesen festzumachen, und v.a. verläuft sie nicht ganz ohne Rückschläge, sofern dieser Ausdruck passt. Aber ab und an empfinde ich doch so etwas wie das Gefühl, mich hier (oder anderswo) allmählich zu Hause zu fühlen, und es ist gelegentlich eben mit derlei Momenten verknüpft.
Liebe Leserschaft, was macht für euch eine geistige Ankunft aus? Schickt eine Nachricht oder einen Kommentar!
Eure gleich mal die Geier füttern gehende Charlotte
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