Oder: Ein Besuch bei Freunden
Liebe Leserschaft,
es ist schon etwas her, aber da ab und an Nachfragen in dieser Hinsicht kommen, hier mal ein paar Zeilen zu Yichang 宜昌, das ich auf dem Rückweg (schluchz) von Kunming nach Nanjing besuchte, per Zug, versteht sich. Yichang mag jetzt nicht jedem bekannt vorkommen, doch der Name seiner bekanntesten Attraktion bestimmt vielen: Dort steht der Drei-Schluchten-Damm.
Yichang: Stadt der scharfen kribbelnden Brühe
Doch eins nach dem anderen. In Yichang habe ich meine Freundin Li besucht, die auch in Göttingen studiert und die über die Ferien nach Hause gefahren war. Lis Heimaturlaub hat die Familie (Eltern und Großmutter) natürlich ungeheuer gefreut, wie Familie nun einmal so ist, was sich jeden Tag u.a. im Auftischen richtig richtig richtig leckeren Essens niederschlug – zur großen Freude der Besucherin aus dem Ausland. Lis Mutter ist Köchin und wirklich eine Meisterin ihres Fachs.
Am ersten Tag also zeigte mir Li ein bisschen Yichang, einen Ort, der im Ausland wohl eher weniger bekannt ist, immerhin aber mit vier Millionen Einwohnern aufwarten kann. Yichang ist sehr vom Wasser geprägt, da es am Yangtze(ein ziemlich beachtlicher Fluss, übrigens) liegt und für den die Schifffahrt von hoher wirtschaftlicher Bedeutung ist. Man sieht viele, mitunter ziemlich dicke, Frachtschiffe diesen riesigen Fluss auf und ab fahren und Yangtze-Kreuzfahrten für Touristen durchfahren Yichang wohl auch früher oder später.
Was bietet Yichang noch? Aufmerksame Leser dieses Blogs kennen die Antwort bereits: Essen. (Denn die Antwort lautet immer: Essen). Yichang ist bekannt für seine Malatang 麻辣烫, eine leckere lokale Köstlichkeit. Tang bedeutet etwa Brühe. La heißt scharf. Ma…ist eine Geschmacksrichtung, die es in Europa nicht gibt, das sie auslösende Gewürz wird meist als Szechuan-Pfeffer oder Blumenpfeffer übersetzt und schmeckt leicht…betäubend, da es im Mund so ein Kribbeln auslöst. Wenn man sich aber ein bisschen an besagtes Kribbeln gewöhnt hat, bemerkt man noch einen anderen Geschmack, der eigentlich ganz erfrischend ist und den ich nicht so ganz in Worte zu fassen vermag. Malatang jedenfalls funktioniert folgendermaßen: In der Malatang-Bude gibt es einen großen Topf gefüllt mit der blubbernden, duftenden Brühe, in die dann je nach Wünschen des Kunden Spieße mit Fleisch, Gemüse oder Tofu getaucht werden, bis sie gar sind und den Geschmack der Brühe aufgenommen haben. Dann werden sie nach und nach dem Kunden gebracht. Es schmeckt wirklich köstlich, geht unheimlich schnell und ist ein sehr vielseitiges Gericht. Ach China, deine Küche, sie fehlt mir. Allein das Verfassen dieser Zeilen lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Lis Familie wohnt in einem sehr hübschen und gepflegten Wohnkomplex, doch hat dieser Wohnkomplex einen kleinen Haken: Aufgrund der demographischen Zusammensetzung der Bewohner dieses Wohnkomplexes finden öfters Beerdigungsfeiern statt. Was in Deutschland in ein paar Stunden mit einer Beerdigung und anschließendem Leichenschmaus rational und effizient über die Bühne, ja vielleicht auch hinter sich gebracht wird, dauert in China mehrere Tage und ist vor allem eines: laut. Denn man braucht natürlich Unmengen Feuerwerk und Knallfrösche und dergleichen, die bösen Geister und so, man weiß ja nie. Außerdem werden Reden geschwungen und Lieder gesungen, mit Mikro versteht sich, wie soll man auch sonst hören? Was einen Sinologen also unheimlich interessiert (denn Beerdigungen bekommt man sonst höchstens mal am Rande zu Gesicht, in Gestalt von vorbeiziehenden Trauerzügen), ist für die Bewohner eines solchen Wohnkomplexes eigentlich nur ein Grund stoisch die Lautstärke des Fernsehers aufzudrehen und auf die Langlebigkeit der übrigen Bewohner zu hoffen, um die es allerdings nicht allzu gut bestellt zu sein scheint: Veranstaltungen dieser Art finden hier wohl ziemlich regelmäßig statt. Über schlechte Schwingungen oder sonstwas macht man sich hier anscheinend auch keine nennenswerten Gedanken mehr. Der Lautstärkeregler der Fernbedienung, er bleibt dein bester Freund.
Was mir auch bei Aktionen, die sich in irgendeiner Version um den Besuch ausländischer Freunde zu Hause drehen, auffällt, ist, dass man als Gast eigentlich eher so mitläuft als dass jetzt großartiges Programm geplant würde, wie es ja meist in Deutschland der Fall ist. Das ist ganz wunderbar. Denn was interessiert einen? Meist doch eher mal ein bisschen das Familienleben eines bestimmten Landes zu erleben. Und eine Feststellung wird auch nie irgendwie alt oder langweilig: Sei es China, USA, Mexiko oder Barbados, Familien funktionieren überall sehr ähnlich. Das Leben spielt sich immer in der Küche und/oder bei Mahlzeiten ab. Die steilsten Zähne finden sich in der ältesten Generation, die die Jüngeren innig lieben, auch wenn Meinungen ab und an, sagen wir mal, auseinander gehen, was man aber irgendwie durch geschickte Kommunikationsstrategien zu umschiffen hofft. Kinder trödeln, hampeln, machen Spöks. Und Ehen, die seit Jahrzehnten bestehen, entwickeln früher oder später so eine ganz eigene Dynamik („Schatz, wo haben wir eigentlich…?“ „Pass auf,dass du nicht wieder schlabberst, Schatz.“).
Auf zum Damm!
Doch dann! Es geht zum Drei-Schluchten-Damm. Lis Freundin Wen war auch so lieb, uns dorthin zu begleiten, denn sie war dort einmal Reiseleiterin. Also los.
Ein paar Worte zu besagtem Damm. So aktuell er auch erscheinen mag, der Bau des Damms begann bereits 1994 und wurde 2003 beendet. Bis 2016 war er gemessen an seiner Leistung der größte Damm der Welt und ist auch wirklich beeindruckend,wenn man ihn besucht. Er hat, wie uns Wen erklärte, drei Funktionen: erstens Stromgewinnung, zweitens Flutprävention, drittens Schleuse.
Bekanntheit in der westlichen Welt erlangte der Damm nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch wegen der mit ihm einhergehenden Problematiken. Da wäre zunächst einmal die Umwelt. Das Ökosystem rund um den Drei-Schluchten-Damm ist ein äußerst vielfältiges, komplexes und empfindliches und wurde natürlich durch den Bau des Damms und die mit ihm einhergehende Flutung der Schlucht erheblich gestört. Außerdem mussten ganze Dörfer umgesiedelt werden, da sie in der zu flutenden Schlucht lagen. Und drittens (und hiervon verstehe ich sehr, sehr wenig), irgendwas Seismisches, denn der Damm sitzt anscheinend an einer Stelle, die für die Plattentektonik ziemlich wichtig ist, weshalb stärkere Erdbeben zu erwarten sind. Mal ganz abgesehen von Erdrutschen.
Wasserprojekte in China, sie sind wirklich nicht neu. Durch Wuxi 无锡, eine Stadt in der Nähe von Nanjing fließt der Hangzhou-Peking-Kanal 京杭大运河, auch Kaiserkanal genannt, der einige hundert Jahre auf dem Buckel hat und damals Güter aus dem Süden des Landes in die Hauptstadt, besser gesagt: zum Kaiser persönlich transportierte. Noch älter und wie der Kaiserkanal ebenfalls noch in Benutzung ist der Damm von Dujiangyan 都江堰 in Sichuan, nicht aaallllzu weit von Yunnan also, der auf das dritte vorchristliche Jahrhundert zurückgeht und wie der Drei-Schluchten-Damm der Flutkontrolle diente. Landwirtschaft war immer wichtig. Wirtschaft überhaupt war immer wichtig. Manchmal musste dazu die Natur eben bezwungen werden.
Zum Damm fährt man mit so einem Bus, dessen Fahrer die entsprechenden Stationen des Damms laut für die Fahrgäste ausruft. An der Endhaltestelle mussten wir feststellen: Wir hatten unseren Ausstieg verpasst, denn wir sahen zwar den Damm, aber eher so in der Ferne. Die einzige Person, der es ebenfalls nicht gelungen war, an der richtigen Haltestelle auszusteigen, war ein anderer Ausländer Mitte 20, der diesen Blick präsentierte, den nur Leute aufweisen, die kein Wort der Landessprache beherrschen und nur ein bisschen begreifen, was um sie herum geschieht. Die Verfasserin dieser Zeilen hat diesen Blick oft genug getragen, um ihn zu erkennen und auch, um zu wissen, was für ein herrlicher Zustand des seligen Nichtwissens mit ihm einhergehen kann. Ahnungslos, aber glücklich. Die Nordkoreareise liegt mittlerweile auch eine Weile zurück. Naja.
Doch zurück zu Yichang. Da Chinesen ja nun ein durchaus gastfreundliches Volk sind, beschlossen Li und Wen nach kurzer Beratung, dass wir uns des verloren dreinblickenden jungen Mannes annehmen müssten. Der Arme, ganz alleine in diesem wilden Zirkus, der sich China nennt, ohne die Möglichkeit oder auch nur der Hoffnung, den Damm jemals zu finden, und, noch schlimmer, sich hier vernünftig zu ernähren. Also bauten wir einen kleinen Kontakt auf. Er hieß Watame, kam aus Kanada (Quebec!), studierte irgendwas mit Ingenieurwesen und war tatsächlich aus fachlicher Perspektive an dem Damm interessiert. Da Li und ich Englisch können, verkündete er, wie sehr er sich freue, endlich mit jemandem sprechen zu können. Also waren wir dann zu viert.
Erster Akt: Zurück zum Damm. Das war nicht schwer. Dann bekraxelten und betrachteten wir den Damm aus allen Perspektiven. Schon ein Riesending! Wen erklärte und zeigte die verschiedenen Bereiche des Damms, wo genau die Schleusen verliefen, wo die Turbinen angebracht waren, wie das Wasser nun fließen soll, um gleichzeitig aus ihm Strom zu gewinnen und die Gefahr der Überflutung zu bannen. Watame wusste auch einiges über den Damm, denn er hatte diesen kleinen Ausflug tatsächlich mit YouTube-Videos vorbereitet. Besonders fasziniert war er von einem Schiffsaufzug, der anders als eine konventionelle Schleuse das Schiff aufnimmt und buchstäblich nach oben oder unten befördert. Krasse Sache.
Abendprogramm
Den ganzen Tag wanderten wir auf dem Drei-Schluchten-Damm umher, irgendwann waren wir recht geplättet, hatten aber tatsächlich alles gesehen. Also fuhren wir zurück in die Stadt und widmeten uns einer sehr wichtigen Frage: Was essen wir eigentlich zu Abend? Schnell war ein Lokal gefunden, außerdem gesellte sich Wens Verlobter Kun zu uns und brachte auch gleich eine ordentliche Flasche Schnaps mit, die er mit Watame leerte („…nein, es tut mir Leid, in Deutschland trinken wir eher so Bier.“) Mir scheint, Kanadier sind eine Spur trinkfester als Chinesen, aber ich möchte auch nichts verallgemeinern.
Das Essen jedenfalls war richtig lecker. Doch war der Abend noch jung und unsere fünf Helden verschiedener Nationalitäten abenteuerlustig, also gingen wir zum Karaoke. Li kann, wie sich dort herausstellte, richtig gut singen! Außerdem wurde Watame von Kun und Wen in die hohe Kunst chinesischer Würfeltrinkspiele eingewiesen.
Und das waren dann der Drei-Schluchten-Damm und Yichang. Eine sehr lustige Aktion!
Eure im nasskalten Göttingen ausharrende Charlotte
Wusste nicht dass du so ein tolles Blog über meine Heimat geschrieben hast 👍😎Charlotte … bin sehr Überrascht 😍
Yichang ist superschön! Es hat mir sehr gut gefallen, hoffentlich sehen wir uns nächstes Mal dort!